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Da-Sein aber Nichts-Tun

Ein Reise nach Japan, Herbst 2024

Wenn ich ein Wort für die Reise nach Japan finden müßte, wäre es „Staunen“. Das, was ich dort erlebte und sah, ließ mich immer wieder staunen. Staunen hat etwas Kindliches, du bist offen und neugierig und denkst nicht, dass du die Welt schon kennen würdest.

Akinobu Kishi hatte in seinen Seiki-Kursen immer wieder gesagt, dass unsere Hände so groß wie „Micky-Maus-Hände“ sein sollten, dass sie so groß „wie die ganze Welt“, ja, wie das Universum“ sein sollten. In den Kursen mit ihm damals klappte das so lala, aber in Japan, mit Kyoko Kishi, erlebte ich es plötzlich wie einen Moment von „Erleuchtung“. Kyoko beschrieb es als „hand and no hand“ („Hand-und-nicht-Hand“). Auch das ein Begriff für etwas, das ich bis dahin nicht konstant zu fassen vermochte. Es fühlte sich wie etwas an, das du vielleicht in einem Bruchteil einer Sekunde be-greifst und das dir dann aber sofort wieder entgleitet, wenn du es ganz fassen möchtest.

In Japan, als wir zusammen Seiki übten, erlebte ich das „Hand-und-nicht-Hand“ plötzlich ganz real. Es war ein besonderer Moment für mich und ich konnte dieses Gefühl, dieses Erleben sozusagen konservieren, so wie du im Sommer Früchte einkochst, damit du im Winter die Marmelade essen kannst. Es geht natürlich mal besser, mal schlechter, wie alles im Leben, aber grundsätzlich kann ich jetzt dorthin gehen, wie zu einem wertvollen Schatz.

Den Shintoismus kannte ich vor der Reise nach Japan überhaupt nicht, beziehungsweise wurde mir dort klar, dass das, was ich schon lange in meinem Leben in der Natur praktiziere, Shintoismus genannt wird. Es ist eine Religion, die Göttinnen und Götter in der Natur “findet“ und verehrt. Ein Baum, ein großer Fels, ein Bach, eine Quelle, das Meer: All’ das kann göttlich beseelt sein und angebetet werden. Es kann mir in meinem Leben und mit meinen Sorgen und Nöten, Krankheiten und Problemen helfen. An solchen besonderen Orten in der Natur werden Shinto-Schreine errichtet und Gottesdienste abgehalten.

Der Shintoismus war für Akinobu Kishi eine Quelle, aus der er sein Leben lang schöpfte, die Basis auch seiner Arbeit. Kyoko, seine Frau, zeigt uns diese Quellen und damit ganz wichtige Pfeiler der japanischen Kultur. In Japan ist der Shintoismus und der Buddhismus weit verbreitet. Shintoistische Schreine stehen neben buddhistischen Tempeln und manchmal findet sich sogar in einem buddhistischen Tempel ein kleiner shintoistischer Schrein. Je nachdem, was ich gerade möchte, kann ich ein buddhistisches oder ein shintoistisches Ritual oder Feier machen. Du bist nicht festgelegt. Diese Freiheit finde ich schön! 

Um 5 Uhr morgens gehen wir zum Motoise Naigu Shrein. Wir führen dort eine shintoistische Gebetspraxis durch: OHYAKUDO: O= Ehrerbietig, hyaku= 100 und do= mal. Wir gehen an 3 aufeinanderfolgenden Tagen 100 x eine bestimmte Strecke zum Schrein. Jedes Mal verbeugen wir uns dort und klatschen in die Hände, um „Kami“, den Gott, die Gottheiten zu rufen. Es geht hier nicht um Wünsche, sondern darum, in den „Spiegel“ zu schauen. Ich sehe mich selbst. Ich bin hier und so jetzt. So bin ich. „Bitte beschütze mich so, wie ich jetzt hier bin.“ Während des Gehens ist jede*r für sich, aber um ihn herum alle anderen 29 Menschen der Gruppe. Wir rezitieren unaufhörlich die 1. Strophe des „Amatsu Norito“-Gebets, jede*r in seinem Rhythmus. Das soll uns Kraft geben und uns zu einem leeren Geist verhelfen. Stattdessen nervt es mich erst einmal, die anderen Stimmen mal lauter mal leiser neben mir zu hören. Ich verstehe nicht die Bedeutung der japanischen Worte. Erst später erfahren wir, dass es lediglich die japanischen Worte für die Zahlen von 1-10 sind.

Ich hatte mir die 100 Mal leichter vorgestellt. Es sind circa 20 Stufen auf dem Weg, loser Kies, gesamt etwa 50 Meter, zudem wird es schnell heiß und schwül, 32 Grad. Mit Strichlisten, Steinen und anderen Zähltechniken haben wir unsere Runden gezählt. Ab 50 habe ich gedacht, dass ich das nicht schaffe. Es wurde zäh und sehr anstrengend. Ich spürte Schmerzen im Bein. Unsere Lehrerin, Kyoko Kishi unterstützte uns. Sie stand zum Schluss des Tages am Weg, ausgestattet mit einem breiten Stoffhut mit Moskitonetz und einer Art kleinem „Ofen“ aus Blech am Gürtel um ihre Hüfte hängend, aus dem  Rauchschwaden (Mücken vertreibend) stiegen. Sie rezitierte mit, gab uns Tee und Salzbonbons, denn wir schwitzten enorm. Mit einem Kollegen aus Berlin war ich die Letzte der ganzen Gruppe. Auch das machte mir psychisch zu schaffen. Zum Glück war ich nicht ganz allein, aber das Wissen, dass die anderen alle schon fertig waren, lastete irgendwie auf mir. Das ist die Kunst: Bei sich zu bleiben! Das war es auch, was Kyoko uns zu Beginn mit auf den Weg gegeben hatte und das ich erst jetzt verstand. Am Schluss, bei den letzten 10 x, ergriff mich plötzlich eine Gefühlswelle. Ich spürte eine große Dankbarkeit und tiefe Freude, aber auch Erschöpfung und emotionaler Schmerz. Er kam aus der Tiefe und ich konnte ihn nicht fassen. Ich weinte einfach hemmungslos und ließ „alles“ heraus. Was es genau war, konnte und kann ich immer noch nicht benennen, aber ich ließ es geschehen und das tat gut. Der Schrein ist so ein friedlicher Ort. Ich war sehr glücklich, es geschafft zu haben.

Am dritten Tag, nach dem Ende des Gehens, laufen wir zum Fluss, wo uns Kyoko erwartet. Es ist ein wunderschöner Ort mit einer besonderen Energie. Hohe Felswände säumen einen kleinen Fluss mit klarem Wasser und hinter einem riesigen Felsen soll sich eine Göttin versteckt haben. Kyoko steht auf einem erhöhten Felsen und leitet uns an. „No swimming!“, ruft sie immer wieder, besonders zu mir, die ich immer tiefer hineinsteige. Wir gehen mit unseren weißen Kleidern ins Wasser und schöpfen mit Plastikgefäßen Wasser über unsere Köpfe. Dabei rezitieren wir noch einmal die Worte und bitten die Götter unser „Geschenk“ (das Gehen) und uns, so, wie wir jetzt hier stehen, anzunehmen. Es ist ein sehr schöner und tiefer Moment.

Das buddhistische Shigisan-Kloster in der Nähe von Nara ist 1.400 Jahre alt. Wir bleiben 2 Nächte dort und nehmen an der morgendlichen Feuer-Zeremonie teil. Das Kloster ist dem esoterischen Buddhismus zugeordnet. Die Feuer-Zeremonie findet am sehr frühen Morgen statt und besitzt schamanische Elemente. Das Feuer, das in einer festgelegten Art und Weise entzündet und geschürt wird, wird mit Reis und Butter „gefüttert“, denn es wird als „Wesen“ behandelt, das Hunger und Durst hat. Der kleine Raum, die vielen Menschen dichtgedrängt am Boden kauernd, die Gesänge, das Trommeln, der Rauch …all das läßt mich irgendwann in eine Art Trance kommen. Gedanken, Bilder, Gefühle, ich am Sterbebett meiner Mutter, ein heftiger Treppensturz, bei dem ich ein Nahtoderlebnis habe, dann das Wissen um die Nichtigkeit und die Auflösung des Egos. Nichts ist wichtig, alles fließt und kann nicht festgehalten werden. Ich bin so erfüllt, dass ich weine. Tränen steigen aus der Tiefe und fühlen sich reinigend an.

Später erklärt der Priester, dass diese Zeremonie reinigen soll von Egoismus und Anhaftung und von bösen Gedanken.

Es war eine spirituelle Reise, eine Reise zu den besonderen Orten von Akinobu und Kyoko Kishi, eine Reise auch wieder zu mir selbst. Eine Reise zu den Wurzeln von Shiatsu? In Kyoto habe ich immer wieder Werbetafeln für Körpertherapien gesehen. Es war immer von „Massage“ die Rede, nie von „Shiatsu“.

Susanne Eichhammer, München, 27.03.2025

Jacques Lusseyran, seit seinem achten Lebensjahr blind, schrieb über das Berühren:

„Die Tomaten im Garten berühren, sie wirklich zu berühren, die Wände des Hauses oder den Stoff der Vorhänge oder einen Erdklumpen wirklich zu berühren, das bedeutet sicherlich, sieso vollständig zu sehen, wie Augen sehen können. Aber es ist mehr als sie zu sehen, es bedeutet, sich auf sie einzustellen und es dem Strom, den sie führen, zu ermöglichen, sich mit dem eigenen zu verbinden – wie Elektrizität. Anders gesagt, dies bedeutet das Ende des Lebens in Konfrontation mit den Dingen und der Anfang des Lebens mit ihnen. Mach’ dir nichts daraus, wenn es dich schockiert, doch dies ist Liebe. Du kannst deine Hände nicht daran hindern, das zu lieben, was sie wirklcih gefühlt haben.“ (Dianne Connelly, Alles Weh ist Heimweh, Verlag Bruno Endrich, Heidelberg 1992, S.120)

“Die Hand, die meinen Körper berührt, berührt mein Leben”…

“Gandhi hat gesagt: “Arbeit mit den Händen ist eine Lehrzeit der Aufrichtigkeit. Möge die Arbeit deiner Hände ein Zeichen sein der Dankbarkeit und der Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben.”

Mit unseren Händen berühren wir das, was aus dem Universum entstanden ist, das Gefäß für das Leben, die Materie selbst, den Wohnsitz, den Körper.

Der gemeinsame, kollektive, funktionierende “Körper” – ihn lernen wir kennen durch Berühren und Fühlen, durch Untersuchen und Erforschen. Er ist ein grenzenloses Königreich, das wir erforschen und erschließen müssen. Wir beschreiben uns selbst über unseren Körper.

Im Körper haben wir unseren Wohnsitz für den Raum und die Zeit, was wir Leben nennen, unsere Lebenszeit, unsere Zeitspanne.

Alles was wir besitzen, ist ein zu lebendes Leben, und das Transportgefäß für unsere Lebendigkeit ist unser Körper.

Über das Ausmaß meiner Identität mit meinem Körper weiß ich nur wenig – bis ich berührt werde; anwesend in meinem Körper bin ich nur wenig – bis eine Hand auf mich gelegt wird und mich in den “Tempel” ruft, ins Haus meines Selbst, ins Heim meines Geistes, in den Wohnsitz meiner Existenz.

Das Wunderbare eines körperlichen Symptoms ist das Signal, daß es in meinem Körper ist, daß es mich auffordert, berührt zu werden, daß es mich aufruft, mich um meinen Schmerz zu kümmern – über meinen Körper.

Doch die unangenehme Lage meines Körpers deutet stets über sich hinaus.

Die Hand, die meinen Körper berührt, berührt mein Leben.

Mein Körper ist in mir. Ich singe mit ihm, spreche mit ihm, mäste ihn, laß’ ihn abmagern, esse mit ihm, schlafe mit ihm. Ich tue alles, einschließlich “zu sein”, in meinem Körper.

Wenn du also meinen Körper berührst – mein Stück unseres “gemeinsamen Weidelandes” -, trittst du in mein Leben ein, in mein Dasein, in meine Wohnung – gleichgültig, wodurch mich berührst. Eine Berührung schließt immer die Anwesenheit des Körpers ein, meines eigenen und die des anderen.

Berührung macht anwesend.

Ich werde von dir berührt, deine Anwesenheit bewegt mich.”

“…Ich denke an eine aufruhende Hand, in der sich ein Berühren versammelt, das unendlich weit von jeglichem Betasten entfernt bleibt, nicht einmal Gebärde mehr heißen darf…denn diese Hand ist von einem weither und noch weiterhin rufenden Anruf durchtraten, weil aus der Stille zugetragen.” (Martin Heidegger)

(aus: “Alles Weh ist Heimweh”, Dianne Connelly, Verlag Bruno Endrich, copyright 1986 Dianne Connelly, 4. Auflage, 2009. Seite 116/117.)

  • Gespräche mit dem Atem
    Nach über 13 Jahren Shiatsupraxis könnte ich meine Behandlungen auch „Gespräche mit dem Atem“ nennen. Ich höre dem Atem zu, ich sehe ihn, nehme ihn wahr, ich beobachte ihn, und ich „spreche“ mit ihm, denn er zeigt mir den Weg. Vor vielen Jahren machte mich mein japanischer Shiatsulehrer Akinobu Kishi das erste Mal darauf aufmerksam, …
  • Shizuto Masunaga über Shiatsu
    „Auch wenn wir das Leben über anatomische und biochemische Darstellungen zu definieren versuchen, liegt die Lebensbeschaffenheit doch jenseits des wissenschaftlichen Zugriffs. Sie können Meridiane und Tsubos (japanisch für Akupunktur-, und Akupressurpunkt) und ihren Wirkungsmechanismus mit konventionellen Methoden untersuchen, aber dieser Ansatz wird ihnen nicht das wahre Leben davon erschließen. Auch Religion ist nicht intellektuelles Verstehen, …